Studie: Individualpädagogische Betreuung von Jugendlichen in Auslandsmaßnahmen

Vorwort des Autors Uwe Lindemann zur Studie

Erwartungen, Prozesse und Realitäten – Können mit Auslandsmaßnahmen Jugendliche wirkungsvoll erreicht werden und sind diese Ergebnisse anschließend in die Lebenswelt der Heimat transferierbar?

Die Akten schwer erziehbarer, von der Sozialarbeit im Grunde nicht mehr erreichbaren, delinquenten, gewaltbereiten, ständig zugedröhnten und immer jünger auffällig werdenden Jugendlichen füllen die Schreibtische der Sozialarbeiter/innen der kommunalen Jugendämter. Welche Hilfen für und mit diesen Heranwachsenden auch immer organisiert werden, oftmals wird bereits nach kurzer Zeit deutlich, dass für eine Hilfe, die mittel- bzw. langfristig Erfolge erzielen kann, das Setting angepasst, bzw. gänzlich neu aufgestellt werden muss.

Der Wunsch, einen Fall wie diesen durch eine funktionierende Maßnahme auf einen gelingenden Weg zu bringen, im besten Fall gemeinsam mit dem Jugendlichen nach einem realistischen Ziel zu suchen, ist durch die akute Gefährdung des Jugendlichen sowie dessen Umwelt kaum mehr realisierbar. In der Regel sind die Möglichkeiten einer Hilfe im Sozialraum, also im direkten Umfeld des Jugendlichen bereits gescheitert und versprechen keinen Erfolg mehr. In dieser Phase der Arbeit mit dem Jugendlichen ist ein Paradigmenwechsel eine mögliche Option: von der intendierten Sozialraumorientierung der bisherigen Hilfsmaßnahme hin zu einer kompletten Veränderung des Lebensumfeldes des Jugendlichen.

Wenn nichts mehr funktioniert, muss man etwas ändern, bis ein Funktionieren wieder möglich werden kann. Neue Bezugspersonen, neue Orte, eventuell sogar in einem anderen Land, eine veränderte Schulform, eine neu gestaltete Betreuungsform können Elemente darstellen, die einen solchen Neuanfang ermöglichen.

Eine Betreuung in Rahmen einer individualpädagogischen Maßnahme im Ausland bietet die Chance, Jugendlichen in krisenhaften Zuspitzungen eine Distanz zu ihrer aktuellen Lebenssituation zu verschaffen und einen Neustart zu ermöglichen. Gelingt es den Jugendlichen, diese Chance zu ergreifen, diese Maßnahme anzunehmen und in diesen auch anzukommen, besteht eine realistische, jedoch keineswegs garantierte Aussicht auf eine Veränderung ihrer oftmals als ausweglos empfundenen Lebenssituation.

Derartige Auslandsmaßnahmen werden inzwischen von vielen Trägern an vielen Standorten inner- und außerhalb Europas angeboten. In der hier vorliegenden Studie widme ich mich exemplarisch dem Projekt „Neue Horizonte“ im spanischen Andalusien.

Seit über einem Jahrzehnt werden im diesem Projekt „Neue Horizonte“ an mehreren Projektstandorten Jugendliche betreut. Eben jene Jugendliche, die von Jugendhilfemaßnahmen kaum noch erreicht werden konnten, die bereits über eine erstaunliche, von Abbrüchen geprägte Jugendhilfekarriere verfügen. Sie werden dort in engmaschigen, individuell ausgestalteten Settings, in naturnahen und sehr sonnigen Gegenden intensiv betreut.

So auch die Studienteilnehmerin Aileen. Sie erinnert sich genau an ihre Gefühle, als ihr das Projekt „Neue Horizonte“ offeriert wurde:
„Aber es hat auch voll den Hass also in mir aufgebracht, weil sie mich dazu gebracht hat. Also ich wollte ja nicht ins Heim. […] Und ich wollte auch nicht nach Spanien. […] Ich war ja im Endeffekt so sauer […] weil sie mich ja weg geschickt hat. […] Aber ich war 13!“.

Der ebenso in dem Projekt betreute Sascha formulierte auf den Punkt gebracht:
„ich bin […] da als Junge hingegangen und als erwachsener Mann wieder gekommen. Ich bin da irgendwie mit 1,70 hin und fast mit 1,90 wieder zurück. Und das halt auch schon 18“.

Die Jugendlichen wurden aus ihrem für sie äußerst schädlichen Umfeld genommen und haben offensichtlich in der Auslandsmaßnahme Fuß fassen können. Sie kommen sogar mit einem Schulabschluss zurück, es kam auch nicht zu einem vorzeitigen Abbruch der Hilfen. Offensichtlich war der Entschluss, den Jugendlichen im Ausland betreuen zu lassen, der richtige.

Doch was passiert mit den Jugendlichen in dieser Zeit? Haben sie sich wirklich verändert oder sind in ihnen nur natürliche Reifungsprozesse vonstattengegangen? Hätten diese Entwicklungen nicht auch im Inland, gar im gewohnten Sozialraum geschehen können? Welche Wirkfaktoren für einen gelingenden Betreuungsverlauf haben die in der Auslandmaßnahme arbeitenden Pädagog/innen angewandt und zur Geltung bringen können? Und haben sie die Adressat/innen damit in der Tat erreicht oder ist alles nur Augenwischerei?

Unzählige Mythen ranken sich um die Projekte der Jugendauslandshilfe, häufig werden sie gar mit erlebnispädagogischen Angeboten verwechselt. Ein möglicher und unabdinglich notwendiger Transfer des im Ausland Erlernten nach dem Abschluss der Maßnahme erscheint schwierig und oftmals gar nicht erreichbar. Über die Fachlichkeit der Mitarbeiter/innen innerhalb der Projekte sowie deren pädagogische Methoden werden ebenso heftig Überlegungen angestellt, die aufgrund schwer möglicher Einblicke in diesen Bereich der Jugendhilfe nur selten mit fundierten Argumenten und praktischen wie auch wissenschaftlichen Erkenntnissen begründet sind.

Von der Situationsbeschreibung zur Forschungsfrage

Mit diesen Fragen, Vermutungen und Vorurteilen im Sinn, begann ich mich zu Beginn des Jahres 2014 intensiv mit den Grundlagen der Jugendhilfe im Ausland zu befassen, analysierte einzelne Projekte und erstellte letztlich die hier vorliegende Studie. Dafür wertete ich Anamnesebögen, Entwicklungsberichte, Hilfepläne etc. aus und stellte recht bald fest, dass nahezu all diese Dokumenten Betreuungsverläufe mit z.T. großer Akribie beschreiben und die Zielsetzungen dieser Hilfen in der Regel mit nachvollziehbaren Intentionen formuliert sind. Aus diesen Daten ließe sich vortrefflich eine Wirkungsanalyse der Hilfsmaßnahmen in Auslandsprojekten erstellen, jedoch kämen auf diesem Wege Forschende den o.g. Mythen kaum auf die Spur.

So entschied ich mich, ein Projekt, das Projekt „Neue Horizonte“ genauer anzuschauen und die Adressat/innen der Hilfe in das Zentrum meiner Untersuchungen zu stellen. Ich reiste nach Andalusien, verschuf mir ein Bild von den einzelnen Projekten an den verschiedenen Standorten und kam mit Mitarbeiter/innen und Jugendlichen ins Gespräch. Sehr schnell wurde mir klar, dass ich in meiner Studie die Teilnehmer/innen der Projekte aus deren retrospektiven Sicht, also nachdem sie die Auslandsmaßnahme beendet haben, zu Wort kommen lassen möchte. So entwickelte ich das Forschungsthema und die Forschungsfrage dieser Studie: Welche Aspekte der Betreuung im Rahmen ihrer Zeit in dem Projekt hat sie unterstützt, dass sie wieder aktiv und positiv ihren Blick in die Zukunft gerichtet haben, wieder Ziele formuliert und Ansprüche an ihr eigenes Leben gestellt haben? Welche Elemente der Betreuung haben eine derartige Wirkung entfaltet, dass man diese als Wirkfaktoren für einen gelungenen oder auch missglückten Betreuungsprozess bezeichnen kann?

Wieder angekommen in Berlin begab ich mich auf die Suche nach den ehemaligen Betreuten, stellte ihnen mein Forschungsanliegen dar und verabredete mich mit ihnen für Interviews. Aus den nun jungen Erwachsenen sprudelten förmlich die Erzählungen und Erlebnisberichte, die ein erstaunlich hohes Maß an Reflektion und Interpretation aufwiesen. Alle ehemaligen Projektteilnehmer/innen erzählten mir, dass sie ihre Zeit bei „Neue Horizonte“ als den bis dahin größten Einschnitt in ihrem Leben begriffen. Sie waren dankbar, dass man ihnen trotz ihrer vielfach nahezu aussichtslosen Situation eine weitere Chance eröffnet hatte und erzählten mir von ihren Anstrengungen und Mühen, die sie aufbringen mussten, diese Chance auch zu nutzen. Sie erzählten mir von den individuellen Ausgestaltungen der Hilfen und über den z.T. immens hohen Einsatz, den die Mitarbeiter/innen in den Projekten vor Ort erbrachten. Diese stellten an einem Punkt im Leben der Jugendlichen, an dem nichts mehr zu funktionieren schien, eine prägende Hilfe und Unterstützung dar. Die Projektteilnehmer/innen trafen in Andalusien auf Menschen, die sie auch noch lange Zeit nach Beendigung der Maßnahme als prägende Personen ihres Lebens in Erinnerung halten.

Die Wirkfaktoren der Betreuung in Auslandsmaßnahmen

Einer Forschungsstudie mit dieser spezifischen Forschungsfrage ist immanent, dass aufgrund der hohen Individualität der einzelnen Hilfen aus den in den Interviews gesammelten Daten keine auf alle Hilfeverläufe allgemein gültigen Aussagen über einen etwaigen Sinn oder Unsinn einer Auslandsmaßnahme entwickelt werden kann. Es würde die Intention dieser individualpädagogischen Maßnahmen konterkarieren, wenn jedes einzelne Hilfesetting einen in einem bestimmten Korridor erwartbaren und messbaren Erfolg zeigt.

Die Ergebnisse dieser Studie bestehen in einem Aufspüren und Identifizieren von Wirkfaktoren und deren Bezüge untereinander. Die Art und Weise des Umgangs mit diesen Wirkfaktoren können als Kriterien der Qualität bzw. eines Erfolgs oder Misserfolgs der erbrachten Hilfe herangezogen werden.

Der Haupt-Wirkfaktor ist der Aufbau einer tragfähigen und belastbaren Beziehung zu mindestens einem/r Betreuer/in. Dieser Wirkfaktor ist aus der Sicht der ehemaligen Projektteilnehmer/innen der wichtigste Baustein für einen gelingenden Betreuungsverlauf. Schafft es auf der einen Seite ein/e Mitarbeiter/in des Projekts, die Jugendlichen zu erreichen und schafft es auf der anderen Seite ein Jugendlicher sich auf eine/n Mitarbeiter/in einzulassen, eine pädagogische Beziehung zuzulassen, wirkt sich diese positiv auf nahezu alle weiteren Elemente der Betreuung aus. Aufgrund der Exklusivität dieser Beziehung in einem sehr engen Setting mit nur wenigen Bezugspersonen wird diesem Wirkfaktor von allen in dieser Studie befragten Teilnehmer/innen der mit Abstand höchste Stellenwert beigemessen.

Weitere zentrale Wirkfaktoren bestehen in der Bewältigung der Schule mit dem Ziel des Erreichens eines Schulabschlusses. Alle ehemaligen Projektteilnehmer/innen standen in Berlin vor dem schulischen Scheitern bzw. sind bereits gescheitert. Am Ende bzw. unmittelbar im Anschluss der Maßnahme haben sie jedoch alle einen Schulabschluss erreicht. Ebenso wird dem Aufbau eines Selbstbewusstseins und das Annehmen der sozial-emotionalen Situation der Projektteilnehmer/innen in Verbindung mit der Bearbeitung jener eine eminent wichtige Bedeutung beigemessen. Jedem/r Teilnehmer/in wurde eine auf die individuellen Bedürfnisse abgestimmte individuelle Hilfe gestaltet, die bei Bedarf verändert wurde. Trotz heftigster und sich wiederholender Vorfälle wurden die Hilfen nicht beendet, sie wurden immer wieder angepasst, bis sie von den Jugendlichen als ein hohes Maß an Unterstützung verstanden und somit auch angenommen werden konnten. Ebenso entscheidend für einen gelingenden Hilfeverlauf betrachteten die ehemaligen Projektteilnehmer/innen, dass sie aktiv an der Ausgestaltung der Hilfe beteiligt worden sind und sie eine Leistung erbringen konnten und mussten, die ihnen von den Betreuer/innen auch abverlangt worden sind.

All die in den Projekten erlernten Verhaltensweisen und erreichten Ziele sollen auch nach der Beendigung der Maßnahme im Inland zum Tragen kommen. Dem Wirkfaktor Transfer/ Anschlussmaßnahme kommt demnach für einen nachhaltigen Erfolg einer intensivpädagogischen Maßnahme im Ausland eine zentrale Bedeutung zu.

All diese und weitere Wirkfaktoren stehen in einem mittel- und unmittelbaren Beziehungsgeflecht, welches in der aus der Auswertung der Interviews entwickelten Grafik erkennbar wird:

Die hier angeführten Begriffe, welche aus der Sicht der ehemaligen Projektteilnehmer/innen die Wirkfaktoren einer gelingenden Betreuung im Projekt „Neue Horizonte“ darstellen, werden in dieser Studie im Einzelnen erläutert und in Beziehung gesetzt.

Ich wünsche Ihnen für die Lektüre dieser Studie viel Freude, u.a. beim Aufspüren von Wirkungszusammenhängen, die eine wie die folgende Aussage der ehemaligen Projektteilnehmerin Elena begründen:
„…also hätte mich meine Mutter damals nicht nach Spanien geschickt, wäre ich, glaube ich, also entweder wäre ich nicht mehr hier oder ich wäre bergab gegangen“.

Uwe Lindemann

 

Über den Autor

Uwe Lindemann, Jahrgang 1974, arbeitet seit über einem Jahrzehnt als Sozialpädagoge und Erzieher in mehreren vollstationären Wohngruppen im Rahmen der Jugendhilfe.

In dieser retrospektiven Studie lässt er die Adressat/innen der individualpädagogischen Auslandsmaßnahme „Neue Horizonte“ im spanischen Andalusien als Expert/innen in eigener Sache zu Wort kommen und geht der Frage auf den Grund, welche Wirkfaktoren für eine gelingende Betreuung ehemalige Projektteilnehmer/innen als wirkmächtig erachten.